"Weltweit einmalig"
Christian Jochum, Vorsitzender der Störfall-Kommission, zu Flughafen/Ticona

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 28. September 2003


Interview von Helmut Schwan

Hat die Störfall-Kommission das letzte Wort bei der Frage, ob die geplante Landebahn am Frankfurter Flughafen wegen der Nähe zum Chemiewerk Ticona ein zu großes Sicherheitsrisiko darstellt?

Rechtlich ist das Votum der Störfall-Kommission lediglich eine Empfehlung an die Bundesregierung, politisch dürfte das Gewicht aber deutlich größer sein, da in der Kommission Industrie, Gewerkschaften, Umweltschutzverbände, Wissenschaft, Behörden, Versicherungen und die Überwachungs-Organisationen vertreten sind.

Die Kommission hat sich die Verhältnisse in Kelsterbach angeschaut. Was war Ihr Eindruck?

Das Werk liegt schon recht nahe am Flughafen. Damit ergibt sich bereits jetzt ein gewisses, aber bisher akzeptiertes Risiko, das man durch eine geringfügige Änderung bestimmter Abflugrouten deutlich verringern könnte. Die geplante Landebahn Nordwest würde jedoch zu einer weltweit wohl einmaligen Situation führen, weil nirgendwo sonst die Maschinen ein Chemiewerk so dicht überfliegen.

Wie ist die Perspektive der Kommission: Lautet sie, ob es überhaupt ein Chemiewerk in einem dichtbesiedelten Gebiet mit dem Risiko eines Flugzeugabsturzes geben darf? Oder ist andersherum die Frage, ob eine Landebahn in der Nähe eines solchen Werkes gebaut werden darf?

Der Idealzustand einer räumlichen Isolierung gefährlicher Chemieanlagen wird in Ballungsräumen kaum erreichbar sein. Veränderungen sowohl im Chemiewerk als auch in der Nachbarschaft sollen jedoch zumindest zu keiner Erhöhung des Risikos führen.

Was sind für Sie die wesentlichen Kriterien für das Urteil der Störfall-Kommission?

Wir prüfen, wie wahrscheinlich der Absturz eines Flugzeugs auf das Gelände der Ticona ist und welche Folgen er haben könnte, insbesondere auch durch Beschädigung der Chemieanlagen. Hieraus ergibt sich ein bestimmtes Risiko. Leider gibt es in Deutschland bisher keinen allgemein anerkannten Grenzwert hierfür. Wir werden uns daher an Vorgaben aus den Niederlanden und Großbritannien halten müssen. Diese liegen bei einem Vorfall in 10.000 beziehungsweise 100.000 Jahren. Zusätzlich muss die Zahl der möglichen Opfer berücksichtigt werden.

Wie lässt sich aus Ihrer Sicht die Spanne in den bisher vorliegenden Gutachten zu der Frage eines Absturzrisikos, das von einem Vorfall innerhalb von 600 Jahren bis zu einer Wahrscheinlichkeit von einmal innerhalb von einer Million Jahren reicht, erklären?

Die Gutachter beziehen zum einen die Absturzwahrscheinlichkeiten auf unterschiedlich große Flächen, die zwischen 200 Mal 200 Meter und einer Quadratmeile liegen. Zum anderen bauen sie ihre Prognose auf einer unterschiedlichen Auswahl tatsächlich vorgekommener Flugunfälle auf. Wir prüfen zurzeit, welcher methodische Ansatz der Situation bei Ticona am ehesten gerecht wird.

Um vergleichen zu können: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass es in Deutschland zu einem GAU in einem Kernkraftwerk kommt?

Dieser Vergleich würde hier hinken, da das wesentliche Risiko nicht der Chemie-grau ist, sondern die Gefährdung des Lebens von nahezu tausend Menschen, die bei Ticona arbeiten. Daher liegt es näher, Lebensrisiken wie Verkehrs- und Arbeitsunfälle heranzuziehen, wie dies in den Niederlanden und Großbritannien gemacht wird.

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